Il sole ride
Verborgene Schätze italienischer Liedkunst
Die italienische Musik des 19. und 20. Jahrhunderts wurde von der Oper beherrscht. Dennoch entwickelten sich parallel dazu die „romanze da salotto“: Kunstlieder für Stimme und Klavier, die hauptsächlich in eher privatem Rahmen oder vor erlesenem Publikum aufgeführt wurden. Diese Werke verschwanden dann für lange Zeit in der Versenkung, erst in den letzten Jahren hat man begonnen, sie neu zu entdecken, aber noch immer ist es schwierig, an Notenmaterial zu gelangen. Wir haben für unser Programm Stücke zusammengestellt, die uns vom ersten Moment an wegen ihrer außergewöhnlich hohen musikalischen Qualität und Frische beeindruckt haben. Die meisten der Komponisten, die wir ausgewählt haben, sind heute auch in Italien kaum bekannt und es fehlt an Hintergrundinformationen bezüglich ihrer Biografien. Zu Lebzeiten hatten einige von ihnen ihren größten Erfolg außerhalb Italiens: Hauptsächlich in England und den Vereinigten Staaten, wo sie sich als Komponisten und Gesangpädagogen behaupten konnten.
Im ersten Teil stellen wir unter anderem das Stück „Povera Lina“ von Francesco Capponi (1840-1900) vor, in dem es um das Schicksal eines jungen Mädchens geht, das sich wegen einer unerwiderten Liebe das Leben nimmt. Die Struktur des Liedes und die bestechende Einfachheit der Melodie gehen einem sofort ins Ohr und ahmen den Stil des stornello nach, einem typischen Volkslied Zentralitaliens. Ein weiteres Meisterwerk ist „Fiore che langue“ von Augusto Rotoli (1847-1904). Im dichterischen Text leitet ein Erzähler die Klage einer Blume ein, die das Fernsein ihres geliebten Schmetterlings beklagt. Die Melodie der Strophe „Torna farfalla mia“ erinnert an die Atmosphäre von Puccinis Butterfly. Im Mittelpunkt unseres Programms durfte ein Tribut an Francesco Paolo Tosti (1846-1916) einfach nicht fehlen. Von dem abruzzischen Komponisten werden deshalb einige Romanzen dargeboten, die aus der Zusammenarbeit mit Gabriele D’Annunzio hervorgegangen sind. Völlig unbekannt ist die sich auf wenige Werke beschränkende kammermusikalische Produktion von Alfredo Catalani (1853-1893), dem berühmten Komponisten von Opern wie La Wally, Loreley und Edmea. Zwei Lieder insbesondere „Sognai“ und „Senza baci“ stechen wegen ihrer kühnen und abrupten Modulationen aus dem damals üblichen Kompositionsstil heraus. So wird z.B. in „Senza baci“ das im Gedicht bekundete, quälende Gefühl des Wartens durch die harmonische Instabilität im ersten Teil des Liedes hervorgehoben.
Im zweiten Teil widmen wir uns Komponisten, deren Werke im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden. Francesco Cilea (1866-1950) und Riccardo Zandonai (1883-1944), die zu den am meisten geschätzten italienischen Komponisten des frühen 19. Jahrhunderts gehören, haben das Genre der „romanza da salotto“ kontinuierlich gepflegt. Man kann von wirklichen Meisterwerken sprechen, die daraus hervorgegangen sind: Zandonai erreicht insbesondere in den Liedern „Mistero“ und „Mistica“ eine spirituelle Tiefe und Symbolkraft, die einzigartig sind. Luigi Gerussi (1891-1942), ein Schüler von Respighi und Begleiter der Gesangklasse des berühmten Baritons und Gesanglehrer Antonio Cotogni (Lehrer u.a. von Giacomo Laura Volpi und Giuseppe De Luca), war Dirigent und ein renommierter Gesanglehrer bei einem Radiosender in Turin. Von ihm werden wir „Panteismo“ vortragen, ein unveröffentlichtes Stück, das wir aus dem privaten Archiv der Sopranistin Magda Olivero, die seine Schülerin war, entnehmen konnten. In „Panteismo“ erscheint die Begleitung wie improvisiert und auch die Tonvielfalt der Stimme machen dieses Stück zu einem Unikat unseres Programms.
Die letzten drei Autoren im Programm waren vor allem in den USA aktiv und in der Tat Vorreiter des italienischen Belcanto in der neuen Welt: Gabriele Sibella (1880-?), Renato Bellini (1895-1957), Arturo Buzzi-Peccia (1854-1945). Gabriele Sibella war als Gesanglehrer in New York tätig (unter seinen Schülern waren Florence Austral, Eva Leoni, und seine Gemahlin Graziella Pareto). Von ihm haben wir zwei Romanzen ausgewählt „Sotto il cielo“ und „Sensazione lunare“, die verzauberte nächtliche Landschaften einfühlsam beschreiben und „Bacio morto“, ein dramatisches Stück, das sich auf das kurzlebige unerwiderte Gefühl der Liebe konzentriert.
Renato Bellini, Komponist und Dirigent, zog in den 1930er Jahren nach Amerika und arbeitete als Korrepetitor am Metropolitan. Von ihm führen wir das Stück „Ninna nanna a Liana“ auf, das der Erstgeborenen des großen Tenors Tito Schipa gewidmet ist, mit dem er eng befreundet war. Der Text der Romanze ist in erster Person geschrieben, als ob Schipa mit der Tochter, die er in den Armen hält, spräche. Das Wiegenlied drückt die liebevolle Zartheit aus, die der grosse Tenor für seine Tochter empfand. Stattdessen wird in „Rime smarrite“, einem schmerzlichen und melancholischen Lied das traditionelle Bild der Freuden und Leiden der Liebe mit einer dornigen Rose verglichen und wird durch ein harmonisch schwebendes Finale, das die unendliche Kraft der Liebe symbolisiert, betont. Buzzi-Peccia, einem engen Freund Giacomo Puccinis, gelang es, eine private Gesangschule in New York zu eröffnen, die zu einem der wichtigsten Zentren der Verbreitung des italienischen Belcanto in Amerika wurde. Die kraftvolle und leidenschaftliche Vitalität seiner Romanzen erinnert an die neapolitanischen Lieder von Mario Costa (1854-1933) und Eduardo di Capua (1865-1917). Wir werden das eher lyrisch und melancholisch angehauchte „Torna amore“ vortragen sowie andere Lieder von brillantem und scherzhaftem Charakter. Zum Beispiel „Colombetta“, in dem diese berühmte Gestalt der italienischen „commedia dell’arte“ sich ein Vergnügen daraus macht, den armen Harlekin zu verspotten, der – der Kälte trotzend – ihr unter ihrem Balkon ein Ständchen singt. Schließlich sollen auch einige Lieder vorgetragen werden, wie „Morenito“, die der Komponist in Spanisch geschrieben hat. In dieser äußerst witzigen Romanze spricht eine Frau, die sich von der Schönheit eines Brünetten verführen lässt. Obwohl sie genau weiß, dass er ihr untreu sein wird, kann sie nicht umhin, ihn zu lieben. Buzzi-Peccia verwendet den Rhythmus des „tanguillo“, eines in Kuba weit verbreiteten spanischen Tanzes, um den exotischen Charakter des Stückes zu betonen.
Viele der oben erwähnten Lieder von Sibella und Buzzi-Peccia wurden für berühmte Sänger der damaligen Epoche geschrieben und ihnen gewidmet, wie Enrico Caruso, Lucrezia Bori, Beniamino Gigli, Tito Schipa, Amelita Galli-Curci. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind diese Komponisten und die meisten ihrer Romanzen zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Über dieses Programm möchten wir sie wegen des menschlichen und kulturellen Wertes, den ihre künstlerische Produktion verdient, in Erinnerung rufen.
Rezension „Der neue Merker“ 04 /2018